Mann spritzt Farben an eine große Leinwand

Synästhesie: Wenn Töne schmecken und Farben klingen

Manche Menschen sehen Farben und haben dann einen speziellen Geschmack im Mund. Oder sie hören einen Ton und sehen Zahlen. Diese Menschen sind nicht krank – sie haben eine vielfältige Form der Wahrnehmung: Synästhesie. Ein Phänomen, das der Wissenschaft bis heute viele Rätsel aufgibt.

Wer in Zahlen Farben sieht, Töne schmeckt oder in Gefühlen geometrische Formen sieht, ist nicht verrückt – sondern vermutlich Synästhet oder Synästhetin. Bei Synästhesie handelt es sich um keine Krankheit, sondern um einen bestimmten Effekt im Bewusstsein.

Ertönt beispielsweise ein Ton auf dem Klavier, hören solche Menschen nicht nur den Ton, sondern sehen darin vielleicht einen leuchtend orangefarbenen Ball – das ist jedoch nur eines von unzähligen Beispielen dafür, wie Synästhesie auftreten kann.

Was ist die Bedeutung von Synästhesie?

Synästhesie zählt zu den rätselhaftesten Phänomenen des menschlichen Gehirns und taucht bei etwa vier Prozent der Bevölkerung auf. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen: Er ist abgeleitet aus "syn" (= zusammen) und "aisthesis" (= Empfinden).

Aber was genau ist die Bedeutung von Synästhesie? Einfach ausgedrückt handelt es sich bei synästhetischen Wahrnehmungen um die Kopplung zweier Sinneswahrnehmungen, die normalerweise getrennt voneinander erfolgen. Synästhetinnen und Synästheten haben eine Wahrnehmung wie andere –  sie sehen oder hören etwas  –  und haben gleichzeitig eine Erfahrung in einem zweiten Sinn, etwa riechen oder schmecken.

In einem Magnetresonanztomographen (MRT) kann man erkennen, wie zwei unterschiedliche Gehirnregionen bei Menschen mit Synästhesie zeitgleich aktiviert werden. In den Gehirnen von Menschen mit Synästhesie gibt es aber auch Verknüpfungen anderer neuronaler Strukturen und Bereiche, beispielsweise mit denen, die für Emotionen, Intelligenz oder andere kognitive Phänomene zuständig sind.

„Die Forschungen hierzu sind aber längst nicht abgeschlossen“, erklärt Dr. Caroline Beier. Die Hausärztin ist selbst Synästhetin und Vorsitzende der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V (DSG). Bis in die 1980er Jahre sei das wissenschaftliche Interesse an dem Phänomen eher gering gewesen, so Beier. „Und lange Zeit war es nicht einmal selbstverständlich, dass es so etwas wie die Synästhesie überhaupt gibt und dass sie keinen Krankheitswert hat.“

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Ist Synästhesie genetisch veranlagt?

Die Wissenschaft ist sich mittlerweile größtenteils einig, dass Genetik bei der Synästhesie eine wichtige Rolle spielt. Der Grund für diese Annahme: Das Phänomen kommt gehäuft in Familien vor.

Der genaue Erbgang ist laut Expertin Beier jedoch nicht bekannt und inkonsistent: „Es gibt ebenso Synästheten, die sonst niemanden in der Familie mit der Begabung haben.“

Und wenn es in Familien mehrere Mitglieder mit Synästhesie gebe, dann seien die Formen jeweils sehr unterschiedlich, so die Ärztin weiter. Es werde also die Veranlagung, jedoch nicht die spezielle Form vererbt. „Es finden sich keine zwei Synästheten mit genau den gleichen Wahrnehmungen.“

Arten von Synästhesie

Synästhesie gibt es also in vielen unterschiedlichen Formen. Laut DSG, die sich auf den US-amerikanischen Anthropologen Sean A. Day beruft, gibt es mehr als 80 Varianten – und die Liste wachse immer weiter. Auf ihrer Website nennt die DSG folgende Synästhesieformen, die am häufigsten vorkommen:

Graphem-Farb-Synästhesie

Buchstaben und/oder Zahlen sind untrennbar mit einem Farbeindruck verbunden.

Farbiges Hören

Geräusche und/oder Musik werden gleichzeitig in Farbe und/oder Formen wahrgenommen.

Sequenz-Raum-Synästhesie

Zeiteinheiten wie Wochentage, Monate, das Jahr oder auch Ziffern besitzen eine bestimmte räumliche Anordnung beziehungsweise Position vor dem inneren Auge.

Ordinal Linguistic Personification (OLP)

Grapheme werden nicht nur mit Farbe und Form, sondern auch mit einem Geschlecht, Charaktereigenschaften und gegebenenfalls Emotionen belegt.

Gefühls-Synästhesie

Emotionale Zustände werden farbig und/oder als Form wahrgenommen.

Person-Farb-Synästhesie

Persönlichkeiten wird eine jeweils charakteristische Farbe zugeordnet. Auch die Zuordnung von Ziffern ist möglich.

Ticker-Tape-Synästhesie

Wahrnehmung von gesprochenen, gehörten, gedachten Worten als „Newsticker“ oder durch Auftauchen der Worte für Sekundenbruchteile vor dem inneren Auge.

Lexikal-gustatorische Synästhesie

Worte haben eine bestimmte Geschmacksrichtung und/oder auf der Zunge spürbare Textur.

Andere Synästhesieformen

Oft werden auch Geschmacksrichtungen, Gerüche oder Körperempfindungen, wie zum Beispiel Schmerz, durch eine synästhetische visuelle Empfindung begleitet.

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Welche Vorteile hat Synästhesie?

Synästhesie ist also eine besondere Form des Bewusstseins und der Wahrnehmung. Und das kann viele Vorteile im Alltag haben. Auch hier ist die Forschung längst nicht abgeschlossen; dennoch gibt es einige Eigenschaften, die für Synästhetinnen und Synästheten als typisch gelten.

Synästhetisch begabte Gehirne arbeiten laut Caroline Beier vernetzter, koordinierter und vielfältiger. Die Reizschwelle ist niedriger, es kommen mehr Informationen an und werden anders neuronal verarbeitet. Diese abgesenkte Reizschwelle ermöglicht aufmerksames Beobachten.

In bestimmten Situationen kann das aber auch zur Überlastung der Sinne führen, was beispielsweise in einem hektischen Umfeld Angstreaktionen oder Stress auslösen kann. „Dann sind gegebenenfalls vermehrte Regenerations- und Ruhephasen erforderlich.“ Auch hier können die Reaktionen jedoch ganz individuell ausfallen, wie Beier betont.

„Gemeinsam ist allen Synästheten außerdem Feinsinnigkeit, Empathiefähigkeit und oft eine hohe Intelligenz“, erklärt Caroline Beier. Es wird zudem angenommen, dass Menschen mit Synästhesie eine erhöhte Kreativität aufweisen. Neben einer verstärkten Sensibilität für Sinneswahrnehmungen gibt es auch Berichte von einer besseren Vorstellungskraft und Detailwahrnehmung.

Da verwundert es nicht, dass es unter Kunstschaffenden oder unter Musikerinnen und Musikern vergleichsweise viele synästhesiebegabte Menschen gibt. Berühmte Beispiele sind die US-amerikanische Sängerin Billie Eilish, der Komponist Hans Zimmer oder auch der Künstler Wassily Kandinsky. Letzterer soll zum Beispiel seine abstrakte Malerei genutzt haben, um Musik widerzuspiegeln.

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Gibt es eine Diagnose für Synästhesie?

Wer zum Hausarzt oder zur Hausärztin geht und von individuellen Erfahrungen berichtet, wird kein Attest oder eine Diagnose gestellt bekommen – schließlich ist Synästhesie keine Krankheit. Bei der DSG gibt es aber beispielsweise ein Online-Testverfahren zur Selbstanwendung oder einen Fragebogen, der von der DSG ausgewertet wird.

Laut Dr. Caroline Beier fühlen sich viele Menschen mit Synästhesie, die noch keinen Namen für ihre Wahrnehmung haben, häufig überlastet und angespannt. Sie merken, dass sie „anders“ sind und denken vielleicht, damit allein zu sein. Daher fördert die DSG die Sichtbarkeit des Phänomens, klärt darüber auf und vernetzt synästhesiebegabte Personen untereinander.

Wichtig sei laut Hausärztin Beier auch, dass zum einen die Gesellschaft als Ganzes, aber auch im Speziellen Ärztinnen und Ärzte, Synästhetinnen und Synästheten in ihrer Individualität akzeptieren. Synästhesie sei eine „wundervolle Form der Wahrnehmung“, die eine ausgeprägte Kreativität ermögliche. Abschließend betont die Expertin: „Gegenseitige Akzeptanz ist das Schlüsselwort.“

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