Folge #5
Junge oder Mädchen –
ist doch Latte. Oder?
Der Coming of Age-Podcast der IKK classic.
Angriffe auf Menschen, die sich der klassischen Geschlechterrolle entziehen, werden häufiger und brutaler. Dabei tut die LGBTIQ+ Community nichts, außer sich zu zeigen. Woher aber kommt dieser Hass? Und wie geht es den Mitgliedern der Community? Und vor allem: Was können wir dagegen tun? Diesen Fragen geht Vivi im Gespräch mit Norman René auf den Grund.
Die Ausgangslage: Beim Christopher Street Day Ende August in Münster beleidigt ein junger Mann mehrere Frauen. Ein 25-Jähriger, Malte C., geht dazwischen und versucht die Situation zu beruhigen. Der Angreifer schlägt den Transmann nieder. Der stirbt später an den Verletzungen. Wenige Tage später in Bremen: Eine Jugendgruppe attackiert in einer Straßenbahn eine Transfrau. Sie wird schwer im Gesicht verletzt.
Solche transfeindlichen Straftaten sind keine Seltenheit: Die Polizei hat im vergangenen Jahr bundesweit 340 Übergriffe registriert. Das ist ein Plus von fast 70 Prozent. Auch homophobe Übergriffe nehmen zu: 870 Straftaten hat die Polizei erfasst, die mit der sexuellen Orientierung der Opfer in Verbindung gebracht werden – 50 Prozent mehr als im Jahr davor.
Norman René Wolf (geboren 1993) studierte Psychologie in Marburg. Er twittert als @deinTherapeut zu Mental-Health-Themen, ist als @deintherapeut auf Instagram präsent und wurde 2018 mit dem "Goldenen Blogger" ausgezeichnet.
Er lebt in Frankfurt und arbeitet als psychosozialer Berater bei der AIDS-Hilfe. Als schwuler Mann ist er Teil der Frankfurter LGBTIQ+ Community und von den gewalttätigen Übergriffen gegen trans Menschen erschüttert. In seinem ersten Buch "Die Fische schlafen noch" erzählt er von der Suche nach seinem obdachlosen Vater.
In seinem aktuellen Buch "Wenn die Pause zur Hölle wird: Wie du dich gegen Mobbing stärkst und Selbstvertrauen gewinnst" widmet er sich dem Thema Mobbing.
Grund genug, über diese Situation mit einem Mann zu sprechen, der nicht nur nahe an der Community ist – sondern selbst Teil von ihr: Norman René. Er ist Psychologe, er liebt Männer und arbeitet – neben seiner Tätigkeit als Buch-Autor und Influencer auf Instagram und TikTok – in der AIDS-Hilfe Frankfurt (AHF) im Bereich Coming Out. Zunächst möchte Vivi von ihm wissen, wie es der Community nach den brutalen Übergriffen geht. „Da ist vor allem Wut, dass das passiert. Und nicht nur darüber, dass das passiert, sondern dass auch so wenig dagegen gemacht wird“, berichtet Norman.
Zu der Wut, erklärt er, gesellt sich auch eine nicht unerhebliche Portion Angst. Angst davor, nachts allein auf der Straße zu sein und selbst Opfer einer brutalen Attacke zu werden. Gerade nach ausgelassenen Feiern sei die Gefahr sehr groß. Und diese Gefahr sei allen Menschen der Community sehr bewusst. Denn die Übergriffe, die aktuell in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind nur die Spitze des Eisbergs. „Bei uns in Frankfurt sind seit März sechs Übergriffe passiert, allein seit März, das ist jeden Monat einer.“
Die Community, berichtet Norman weiter, ist ja nicht riesig groß. Man kennt sich. Also sind die Opfer meist keine anonymen Namen. „Das sind Freundinnen, Bekannte, die angegriffen und auf offener Straße zusammengeschlagen werden. Und man guckt da so ein bisschen zu und wartet auf das nächste Unglück.“ Aber warum diese Übergriffe? Warum erzeugt die reine Existenz der Community eine derartige Ablehnung, woher kommt dieser Hass?
Normans Vermutung: „Ich glaube, es hat viel mit toxischer Männlichkeit zu tun. Ich glaube, das sind Männer, die sich verunsichert fühlen, wenn sie queere (englische Bezeichnung für schwul) Personen sehen. Also Männer, die nicht den typischen männlichen Stereotypen entsprechen, die vielleicht ihre Männlichkeit, also die Männlichkeit dieser Menschen, die übergriffig werden, in Frage stellen.“ Unter toxischer Männlichkeit versteht man ein destruktives Verhalten von Männern, das schädlich für sie selbst und für andere ist. Toxische Männlichkeit speist sich aus vermeintlichen Vorgaben, wie ein Mann sein soll, was er zu fühlen und wie er sich zu verhalten habe.
Das perfide an der Situation: „Es ist ganz offensichtlich das Problem der Menschen, die übergriffig werden und nicht das Problem der Leute, die einfach nur existieren wollen und sicher sein wollen und körperlich unversehrt bleiben wollen.“ Gibt es Gründe, warum gerade jetzt, wo mit Tessa Ganserer und Nyke Slawik (beide Grüne) zum ersten Mal zwei offen transgender-lebende Frauen in den Bundestag eingezogen sind, wo das Thema also sichtbar und in der Debatte angekommen ist, die Gewalt so rapide zunimmt?
Transgender Menschen bekommen in diesen Zeiten den Raum in der Öffentlichkeit, für den sie so lange gekämpft haben, erklärt Norman. „Und das gefällt denen nicht, die damit ein Problem haben und die gerne diese Person irgendwie klein und nicht existent halten wollen.“ Nur kann es natürlich keine Lösung sein, Menschen, die anders denken und fühlen, das Existenzrecht abzusprechen. Die Community existiert, sie ist da und sie ist sichtbar. Was also ist zu tun?
„Ich glaube, wir haben unterschiedliche Aufträge. Ich glaube, wir als Community müssen weiterhin laut sein. Wir müssen weiterhin ohne Entschuldigung wir selbst sein. Und das so laut wie möglich, damit wir gesehen werden.“ Und die Gesellschaft? Was ist deren Rolle auf dem Weg zu einer toleranteren Welt? „Menschen, die die Allies (englisch für Verbündete) sind, die nicht queer sind und trotzdem unterstützen möchten, sollten den Leuten vor allem zuhören, die über ihre Situation sprechen. Die über Gewalt sprechen, die aber auch über ihre ganz persönlichen Themen sprechen. So lernt man am besten.“ Und ganz wichtig: Hilfe suchen bei Zweifeln, bei Unsicherheit.
Eine wichtige Anlaufstelle sind dafür Beratungseinrichtungen wie die, bei der Norman arbeitet. Wer dorthin kommen darf? Grundsätzlich jeder. „Wenn du merkst, da sind Gefühle, die der Rest der Menschheit oder der Durchschnitt der Gesellschaft nicht hat. Wenn du realisierst, du liebst anders oder hast ein anderes sexuelles Verlangen.“ Ganz wichtig, sich dann Hilfe zu holen. Denn von selbst ändert sich die Situation nicht. „Ich glaube, dass viele darauf warten, dass irgendwann der Tag kommt, wo sie aufstehen und denken: ‚Heute ist der Tag, heute fühle ich es‘. Aber der Tag kommt nicht. Und vielleicht ein Ratschlag noch: Oft ist die Angst größer, als sie sein müsste. Meistens ist die Angst 99 Prozent und das, was dann passiert, ist dann ein Prozent.“
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