"Ich bin nicht meine Angst": Antonia Wille schreibt über ihre Angst­störung

Redaktion
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Jahrelang verbarg die Journalistin Antonia Wille ihre Angststörung im Privaten wie im Beruf. Bis sie sich eines Tages fragte: Warum eigentlich? In diesem Essay – den Antonia Wille exklusiv für Gesund.Machen. schreibt – zeigt sie, welche Kraft in uns steckt, wenn wir über kleine wie große Krisen sprechen.

Agoraphobie mit leichter Panikstörung. So lautet meine Diagnose. Das Wort Agoraphobie leitet sich aus dem Griechischen ab. Agora heißt wörtlich übersetzt Marktplatz, phóbos hingegen Furcht. Menschen mit Agoraphobie haben in der Regel Angst vor öffentlichen Plätzen und Situationen in der Öffentlichkeit, aus denen sie im Notfall nur schwer entkommen können oder in denen sie womöglich auf sich allein gestellt sind. Auch vor Reisen oder davor, weit weg von Zuhause zu sein, haben sie Angst.

Die Folge: Sie meiden weite Plätze, Menschenmassen, Kinos, Busse, Straßenbahnen, Züge oder Fahrstühle. Die Agoraphobie ist immer situationsbezogen, heißt: Sie tritt an den unterschiedlichsten Orten auf, beispielsweise im Theater, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Flugzeug, im Restaurant oder in der Schlange im Supermarkt.

Oder wie bei mir: in der U-Bahn. Wenn diese im Tunnel steht. Im Stau, wenn ich am Steuer sitze. Oder in Situationen, in denen ich nicht einfach wegkann. An guten Tagen meldet sich die Angst kaum. Ich weiß zwar, dass es sie gibt, aber sie ist mehr wie eine alte Bekannte, die ich lange nicht mehr gesehen habe.

An schlechten Tagen begleitet sie mich schon auf dem Weg zur U-Bahn und erzählt mir Horrorgeschichten. An diesen Tagen ist mir übel, ich fühle mich ausgelaugt, ich zittere, meine Beine sind wackelig und ich will am liebsten nur eines: weit weg von meiner Angst und der U-Bahn sein. Meistens hilft dann nur „Augen zu und durch“, trotz aufkeimender Panik in die Bahn einsteigen und losfahren. Bis die Angst an irgendeiner Haltestelle aussteigt und ich ohne sie weiterfahre. Manchmal jedoch bleibe ich am Bahnsteig stehen, die Angst hält mich zu sehr fest im Griff.

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Niemand bemerkt meine Ängste

Bemerken tut das niemand. In der Außenperspektive steht dort eine junge, selbstbewusste Frau auf dem Weg zu einem Termin. Die Journalistin, die ihr Leben im Griff hat. Die gerade noch mit ihrem Mann zu Frühstück gegessen hat. Die heute Abend ihre Freundinnen und Freunde trifft. Die ein tolles Leben hat, ganz ohne große Probleme. Die mit beiden Beinen im Leben steht. Und die auf keinen Fall Angst hat.

Dass in mir ein Angst-Tornado tobt, der mich fast zum Umfallen bringt, ahnt niemand. Sie sehen alle nur diese starke Frau. Und viele Jahre lang war mir das am wichtigsten.

Niemand spricht über mentale Gesundheit

Meine erste Angstattacke hatte ich mit 14 Jahren. Schnell wurden Ausflüge, Klassenfahrten, selbst Urlaube mit der Familie zum Problem. Darüber geredet habe ich nur mit meiner Familie und meinem Therapeuten. Anfang der 2000er-Jahre auf einem oberbayerischen Dorf spricht man nicht über mentale Gesundheit. Man hat sie einfach.

Und so verberge ich all die Jahre meine Angst. Sie ist ein Teil von mir, und doch kämpfe ich im Stillen. Und merke über die Zeit, wie sehr mir das Schweigen über die Angst die Kraft raubt. „Kommst du mit in den Urlaub?“ „Nein, ich habe leider keine Zeit.“„Übernimmst du diese Pressereise?“ „Zu gern, aber ich bin schon verplant.“ „Kommst du spontan mit nach Augsburg?“ „Ich fühle mich leider nicht gut.“„Hast du am Donnerstag um 15 Uhr Zeit?“ „Leider nein, da habe ich Therap...Yoga.“ Ich werde eine Meisterin der Notlügen und fühle mich schlecht.

Wage ich mich doch in die Situation, wird es unerträglich. Angstattacken sind per se schon anstrengend. Wenn niemand diese bemerken soll, wird der Kampf ein Horrortrip. „Geht’s dir nicht gut?“ „Ja ich glaube, ich habe das Mittagessen nicht vertragen“, sage ich – und wünschte, diese Übelkeit käme wirklich nur von einem schlechten Essen. Die Angst zerrt an mir, doch das versteckte Leben noch viel mehr. Ich liebe Authentizität, lege Wert auf ein authentisches Leben, und kann doch nur zu 90 Prozent ich selbst sein.

Irgendwann frage ich mich, mittlerweile bin ich Mitte 20, warum ich immerzu diese Angst verberge? Wovor habe ich so Angst? Ist es die Verurteilung? Ist es die Angst, dass man mir nichts mehr zutraut? Oder ist es die Sorge, dass man mich plötzlich nur noch als die mit der Angst wahrnimmt? Ja, ich bin besorgt, dass man mich mit anderen Augen sieht. Dass man nicht mehr Antonia, die Journalistin, die Freundin, die in vielen Bereichen mutige Person sieht, sondern vor allem nur noch Antonia mit der Angst. Und ich scheue die Verurteilung.

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Wenn die Last endlich abfällt

Trotzdem wage ich es irgendwann und spreche zaghaft darüber. Sage nicht mehr, dass ich keine Zeit habe, sondern dass ich eine Angsterkrankung habe und die Veranstaltung deshalb nicht besuchen kann. Dass es mir gerade nicht gut geht, weil ich am Rande einer Panikattacke stehe und es mir helfen würde, an die frische Luft zu gehen. Zuerst ist es mein Freundeskreis, später das Arbeitsumfeld. Und irgendwann schreibe ich ein ganzes Buch über das Leben mit der Angst.

Und es passiert: nichts. Im Gegenteil: Die Reaktionen sind liebevoll, verständnisvoll und oftmals anerkennend. „Toll, dass du darüber sprichst“, höre ich nicht selten. Plötzlich stehe ich nicht mehr alleine am Rande einer Veranstaltung, sondern mit Menschen, die sich um mich sorgen. Die sichergehen wollen, dass es mir gut geht. Bei denen ich ich sein kann.

Viel wichtiger ist jedoch, wie ich mich fühle – nämlich gut. Ich merke, wie eine Last von mir fällt. Nicht nur, dass ich plötzlich zu 100 Prozent ich sein kann, ich weiß, dass ich auch in einer Angstsituation einfach die Angst beim Namen nennen kann. Und Hilfe bekomme. Oder einfach nicht mehr eine Maske aufsetzen muss.

Nicht alle verstehen meine Offenheit, nicht jede oder jeder kann damit umgehen. Aber das ist okay.

Angstphase

Antonia Wille leidet seit ihrem elften Lebensjahr an einer Angststörung. Warum es ihr heute besser geht und wie sie meistens problemlos ihren Alltag meistert, schildert sie in ihrem Buch „Angstphase“. Mit wertvollen Tipps und entlastenden Worten für andere Betroffene.

Buchcover "Angstphase" von Antonia Wille

„Ich bin mehr als nur die Angst“

Mein wichtigstes Anliegen: Stärke und Schwäche schließen sich nicht aus. Ich bin nicht nur Antonia, die Angst hat. Ich bin auch eine erfolgreiche Journalistin. Eine Gründerin. Eine Freundin, die gut zuhören kann. Eine tolle Ehefrau. Eine wunderbare Schwester. Ein Mensch mit vielen Facetten. Und so wie alle Menschen bin auch ich mal stark und mal schwach. Niemand von uns ist 24/7 immer nur stark.

Wir alle erleben Verluste, Trauer, Kummer, Tage, an denen wir uns schwächer fühlen als sonst. Und manche von uns haben eben kleine wie große Krisen, die sie meistern müssen. Nur weil diese nicht immer sichtbar sind, sind sie nicht minder schwer.

Im Gegenteil: Wer sich eingesteht, gerade eine Krise zu haben, sich Hilfe sucht, sich mit den Themen auseinandersetzt und sein Bestes gibt, ist stark.

Offenheit hilft, verstanden zu werden

Die Offenheit hat mir geholfen, besser verstanden zu werden. Sie hat mir geholfen, zu erfahren, dass ich nicht allein bin mit meiner Angst. Dass wir alle nur viel zu wenig drüber reden. Ich habe gelernt, dass die Angst ein Teil von mir ist, sie mich aber nicht komplett ausmacht. Und dass die Angst und ihre Herausforderungen leichter werden, wenn man sie teilt.

Je offener ich mit meiner Angst umgehe, je mehr ich akzeptiere, dass die Angst zu mir gehört, ich einen Umgang mit ihr finden muss, desto weniger nimmt sie Einfluss auf mein Leben. Denn: Monster werden kleiner, wenn man über sie spricht.

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Meine Erkenntnisse aus der Angststörung

  • 1. Ich bin nicht alleine – viele Menschen leiden an Ängsten, kaum einer spricht darüber

  • 2. Die Angst will mir etwas sagen – die Angst kommt selten ohne Grund, es lohnt sich, hier genauer hinzusehen

  • 3. Es ist okay, sich Hilfe zu suchen

  • 4. Niemand von uns ist 24/7 immer nur gut drauf – Schwäche, schwierige Momente und Zeiten gehören zum Leben dazu

  • 5. Sprich mit dir wie du mit einer guten Freundin sprechen würdest – wir sind viel zu oft viel zu hart zu uns selbst

Das hilft mir in akuten Angstsituationen

  • 1. Atmen – ruhig und langsam

  • 2. Mich mit Menschen unterhalten oder jemand liebes anrufen – hilft in schwierigen Situationen und lenkt ab

  • 3. Etwas Scharfes essen – der Körper kann nicht gleichzeitig Schärfe verarbeiten und Angst haben

  • 4. Mich bewegen – das baut das Adrenalin ab. Am besten Jumping Jacks – oder Treppenstufen laufen

  • 5. Meine Umgebung beobachten und Dinge, die ich sehe, fühle, rieche und höre aufzählen – der Fokus verlagert sich von der Angst auf die Umgebung

  • 6. Die Angst annehmen und akzeptieren – sie begleitet dich, aber es wird dir nichts passieren

  • 7. Von Minute zu Minute denken – meist kommt die Angst in Wellen und manchmal muss man sich nur ein bisschen durch die Situation hangeln

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Veröffentlicht am 19.09.2023

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