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Wie Verbraucherinnen und Verbraucher vom Nutri-Score profitieren, worauf sie bei der Lebensmittelauswahl achten sollten und welche Gefahren die Kennzeichnung mit sich bringt – darüber haben wir mit der Ernährungsexpertin und Dozentin Aline Emanuel gesprochen.
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Frau Emanuel, halten Sie den Nutri-Score aus ernährungswissenschaftlicher Sicht für sinnvoll?
Ich sehe es von zwei Seiten: Man wollte der Bevölkerung etwas an die Hand geben, um gesunde Ernährung zu vereinfachen. Da gab es verschiedene Modelle, die man diskutiert hat, am Ende hat man sich auf den Nutri-Score verständigt, weil er schon in anderen europäischen Ländern wie Frankreich angewandt wird und dort positive Erfahrungen gemacht wurden.
Allerdings führt der Nutri-Score nicht automatisch dazu, dass die Bürgerinnen und Bürger wissen, was gesund ist und was nicht. Er vergleicht lediglich Produkte innerhalb einer Produktgruppe. So kommt es zum Beispiel vor, dass eine Tiefkühlpizza mit Nudeln den Score A erreicht, obwohl sie sicherlich kein gesundes Lebensmittel ist. Sie ist lediglich hinsichtlich der enthaltenen Nährwerte nach dem Nutri-Score besser bewertet als andere Tiefkühlpizzen.
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Welche Kritik gibt es am Nutri-Score?
Die Bewertungsskala ist diskutabel. Gesättigte Fettsäuren zum Beispiel werden als sehr negativ eingestuft, was nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entspricht. Studien zeigen seit vielen Jahren, dass gesättigte Fettsäuren nicht gesundheitsschädigend sind, sondern als neutral bewertet werden können.
Das führt dann dazu – um beim Tiefkühlpizza-Beispiel zu bleiben –, dass eine Pizza mit Salami mit C, also schlechter als die mit Nudeln bewertet wird. Im Endeffekt sollte man die Pizza aber nach ihren Hauptbestandteilen beurteilen, und die sind nun mal ungesund. Der Nutri-Score kann die Verbraucherinnen und Verbraucher hier in die Irre führen, weil man bei Grün automatisch an gesund und bei Rot an ungesund denkt.
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Wie bewerten Sie die konkrete Berechnung des Nutri-Scores und sehen Sie noch Optimierungsbedarf?
Die Berechnung versteht ein normaler Konsument überhaupt nicht, sie ist auch für eine Fachkraft schwer nachvollziehbar und teilweise einfach nicht haltbar. Wenn ich mir eine Flasche natives, kaltgepresstes Olivenöl kaufe und dieses mit E bewertet wird, ist das mehr als fragwürdig. Denn Olivenöl ist definitiv ein gesundheitsförderndes Lebensmittel – und dass man die Flasche nicht auf einmal verzehren sollte, dürfte klar sein.
Es gibt positive und negative Aspekte beim Nutri-Score – und wir als Ernährungsberater, aber auch Verbraucherschützer und Journalisten haben die Aufgabe, darüber aufzuklären.
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Hätte es Ihrer Meinung nach bessere Kennzeichnungssysteme als den Nutri-Score gegeben?
Mir ist keins bekannt, woran ich keine Kritik gehabt hätte. Man kann nicht sagen, dass der Nutri-Score die schlechteste Lösung wäre. Es gab in meinen Augen keinen besseren Vorschlag. Man wollte eben eine europäische Norm haben und da musste man sich erst unter den Ländern einigen, welche Nährstoffe wie bewertet werden sollen.
Wenn der Nutri-Score Salz und Fett generell als schlecht bewertet, muss man feststellen, dass dies nicht der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage entspricht. Denn Salz kann zwar für Personen mit Bluthochdruck schädlich sein, für einen Großteil der Bevölkerungist es jedoch als neutral anzusehen – und für Sportler ist es sogar essenziell. Man muss immer den gesamten Lebensstil einer Person betrachten.
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Warum brauchen wir überhaupt ein Lebensmittelkennzeichnungssystem wie den Nutri-Score?
Ich erlebe es tagtäglich in der Ernährungsberatung und beim Einkaufscoaching, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht automatisch wissen, was gesund ist und was nicht. Von daher ist Aufklärung definitiv notwendig. Positiv am Nutri-Score ist auf jeden Fall, dass sich Menschen Gedanken um ihre Ernährung machen. Sie kaufen nicht einfach ein, sondern wählen ihre Lebensmittel bewusster aus.
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Sollte gesunde Ernährung Ihrer Meinung nach schon in der Schule stärker thematisiert werden?
Meiner Meinung nach noch früher. Man kann bereits im Kindergarten mit sehr kleinen Kindern Ernährungslehre durchführen. Kinder können sehr wohl zwischen gesunden und ungesunden Lebensmitteln unterscheiden, wenn man ihnen das vorher spielerisch erklärt.
Das kann im besten Fall dazu führen, dass sich das Ernährungsverhalten in einer Familie ändert. Privat geführte Kindergärten haben teilweise eigene Ernährungsberaterinnen oder -berater angestellt, die für die Kinder mittags kochen und sie aufklären. Diese Kinder haben ein ganz anderes Ernährungswissen – sie verstehen, dass ein Schokoriegel kein Grundnahrungsmittel ist.
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Was könnte das Ernährungsverhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher darüber hinaus positiv beeinflussen?
Ich halte es für wichtig, dass eine Bewertung von Lebensmitteln eher in die Richtung geht, wie verarbeitet ein Lebensmittel ist. Dass man sich zum Beispiel fragt: Kaufe ich eine ganze Kartoffel oder ein fertiges Pulver, was ich zu Püree verarbeiten kann? Eine Kennzeichnung, inwiefern das Produkt verarbeitet ist, fände ich sehr sinnvoll.