Folge #6
Martins Leben mit Tourette – Ein Tic anders
Der Coming of Age-Podcast der IKK classic.
Tourette – ist das nicht diese Erkrankung, bei der Betroffene ununterbrochen Schimpfwörter raushauen? Nun, nicht ganz. Es ist eine Erkrankung, die jeden zehnten Jungen im Grundschulalter betrifft. Bei den meisten hört es wieder auf. Bei anderen nicht. Bei Martin hat es nicht aufgehört. Wie das Leben damit trotzdem gelingt? Dieser Frage geht Vivi heute auf den Grund.
Es begann mit sechs Jahren. Da fing Martin an, Grimassen zu schneiden. Erst nur ganz selten, dann immer häufiger. Irgendwann kamen Geräusche dazu, unbestimmbare Laute. Keine ungewöhnliche Erscheinung, viele Kinder tun das in diesem Alter. „Ich habe das anfangs gar nicht richtig wahrgenommen“, erinnert er sich. „Ich wusste schon, dass ich Geräusche und Grimassen mache, aber die haben mich nicht wirklich irritiert oder gestört.“ Das geht bei vielen Kindern wieder weg. Bei Martin blieb es. Und nicht nur das: Es wurde intensiver.
Im Alter von neun Jahren stellten Mediziner dann die Diagnose: Martin leidet am Tourette-Syndrom. Wobei leiden vielleicht nicht die richtige Formulierung ist. „Die Tics waren halt da, es hat sich so eingebürgert“, sagt Martin. Gestört haben sie ihn nicht. Oder nicht sehr. Er konnte zur Schule, hatte Freunde, machte Sport. Er hatte halt seine Tics. „Als das Ganze dann Tourette-Syndrom hieß, war es eher erleichternd. Jetzt hat es einen Namen. Nun können wir auch einen Weg finden, damit umzugehen.“
Martin ist IT-Spezialist, 36 Jahre alt. Sportlich, eloquent, hat Erfolg im Beruf und bei Frauen. Martin sieht gut aus, kann sich gewählt ausdrücken. Er hat Erziehungswissenschaft studiert und eine Ausbildung zum systemischen Coach abgeschlossen. Im Gespräch zuckt er manchmal mit dem Kopf oder macht überraschende Geräusche. Denn Martin hat seit 30 Jahren eine neurologische Erkrankung: das Tourette-Syndrom.
Nach einer extrem schwierigen Phase während der Pubertät – die Tics waren damals ziemlich intensiv und körperlich anstrengend – haben sich die Symptome auf einem erträglichen Level eingependelt, Martin hat seinen Umgang mit der Erkrankung gefunden. Er zieht sich nicht zurück oder verkriecht sich in seiner Wohnung. Im Gegenteil: Er geht raus, geht unter Leute, macht seinen Sport. Ein Freund hat ihm einmal gesagt. Martin, bei dir sehe ich, dass du Energie draus ziehst, unter Leuten zu sein.
Klar, manchmal sind die Tics auch intensiver, gerade in belastenden Situationen oder bei Wetterumschwüngen. Dann helfen Atemübungen oder Entspannungstechniken. Und eine bewundernswerte Haltung: „Ja, es ist halt da. Es läuft immer mit. Klar, es wäre deutlich entspannter ohne. Aber es ist einfach Teil meines Lebens. Ich gebe ihm keinen so großen Fokus.“
Aktuell plant Martin neben seiner Arbeit in der IT-Branche, eine Anlaufstelle für Betroffene zu gründen, um anderen Tourette-Patienten von seinen Erfahrungen zu berichten und damit zu helfen.
Tourette ist eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Zu den Merkmalen gehören so genannte Tics, unwillkürliche Bewegungen oder Laute, manchmal auch Schimpfwörter. Rund ein Prozent aller Menschen leidet unter dieser Erkrankung. Dabei entwickeln Jungs drei bis viermal häufiger Tics als Mädchen. In unterschiedlichen klinischen Studien zeigte sich, dass zehn Prozent aller Grundschulkinder vorübergehend von dieser Erkrankung betroffen sind. Vor rund 130 Jahren sind die Symptome zum ersten Mal beschrieben worden – von dem französischen Arzt Gilles de la Tourette. Und seitdem suchen Mediziner nach der Ursache.
Die Tourette Tics können nach wie vor nicht behandelt und nicht geheilt werden. „Die Ursachen sind nicht wirklich geklärt“, erläutert Dr. Richard Musil, der am Klinikum der Universität München eine Ambulanz für Betroffene leitet, in einem Interview mit der Apotheken-Umschau. Die Veranlagung gehört häufig dazu. Auch Infektionen stehen im Verdacht, die Krankheit auslösen zu können. Vieles ist noch unklar. Etwa warum bei manchen die Tics wieder verschwinden, bei anderen stärker werden. Meist schleicht sich die Erkrankung im Kindesalter ins Leben – und dann ist die Entwicklung offen.
Bei Martin wurde es in der Pubertät richtig schlimm. „Mit 13 oder 14 Jahren ist es dann völlig durch die Decke gegangen, das war vermutlich die Hormon-Umstellung in dem Alter“, sagt Martin. In dieser Zeit haben sich die Tics in der Frequenz und auch in der Intensität deutlich erhöht. „Ich habe zum Beispiel einen ziemlich komplexen Tic entwickelt, bei dem ich mich immer um die eigene Achse drehen musste, während ich ein paar Schritte laufen wollte.“ Fünf Schritte nach vorne, dabei fünf Umdrehungen um die eigene Achse. „Es begann immer mit einer reißenden Kopfbewegung nach links, gefolgt vom Ober- und dann dem Unterkörper“, sagt Martin. „Der Schulweg war zu dem Zeitpunkt einfach nur noch eine Qual.“
Doch statt sich zuhause zu verkriechen, ging Martin raus. Er ging weiterhin in die Schule und unter Leute, traf Freunde, machte seinen Sport: Basketball. Was erstaunlich klingt, doch das war möglich. Beim Sport waren die Tics zwar nicht völlig weg, aber doch so kontrollierbar, dass er seiner Leidenschaft weiterhin nachgehen konnte. Aber wie fühlt sich das an, wenn ein Tic kommt? Kann man das denn beschreiben, in Worte fassen?
„Die meisten Betroffenen berichten von einem Vorgefühl, das die Tics ankündigt“, erklärt Martin. Bei ihm ist dieses Vorgefühl ziemlich stark. „Ich merke, wenn es kommt. Da baut sich ein Gefühl in mir auf, dass ich beispielsweise dieses Geräusch, das ich immer mache, jetzt machen muss. Dieses Gefühl muss befreit werden, dann ist der Druck wieder raus.“ Dabei genügt es nicht, irgendetwas zu machen. „Bei diesem Geräusch muss ich beispielsweise eine bestimmte Lautstärke treffen und meine Muskulatur muss auf eine bestimmte Weise angespannt worden sein“, sagt er. „Und es muss ein gewisser Luftaustausch herrschen, damit dieser Druck befriedigt ist und dann wieder einige Momente ruhen kann.“
Klingt furchtbar anstrengend, ist es auch. „Gerade die körperlichen Tics gehen stark auf die Gelenke und die Muskulatur.“ An einigen Stellen sind die Schmerzen regelrecht unerträglich. „Hauptsächlich im rechten Schulter-Bereich und im Arm, da sind die Schmerzen relativ doof, weil es dann immer wieder eine Stelle in dem Arm triggert“, sagt Martin. „Das bedeutet, oft muss man dann genau in den Schmerz irgendeinen Tic rein anspannen und das macht die Erholungsphase natürlich nur endloser.“
Mit den Jahren wurden die Tics weniger, sie wurden leichter. „Das ging bei mir bis Ende der elften Klasse, wo es innerhalb von wenigen Monaten schlagartig besser wurde“, sagt Martin. „Warum, das kann ich jetzt gar nicht sagen, aber am Ende der elften, zwölften, 13. Klasse war das überhaupt kein Problem mehr.“ Heute steht Martin mitten im Leben. Er arbeitet in der IT-Branche, hat Freunde, er geht aus. Alles wieder ganz normal. Oder doch nicht? Nicht ganz: Martin lebt mit Tourette, und das wird sich auch nicht ändern.
Aber er hat Wege gefunden, mit der Krankheit umzugehen. „Was ich aus dieser Phase gelernt habe, in der es dermaßen schlimm war und daraufhin so deutlich besser wurde, war, dass es immer wieder besser wird. Und das war eine ganz wichtige Erkenntnis für mich. Auch als es dann später noch mal sehr anstrengend wurde mit vielen intensiven Tics, hatte ich immer im Hinterkopf: Hey, damals wurde es auch besser. Und so schlimm wie damals war es nie mehr. Und es hat sich immer bestätigt. Es wird immer wieder besser.“
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